Vorsichtig fischt Samwell Marx den Film aus dem Fixierbassin. 36 Bilder hat seine Fotofalle innerhalb einer Woche geschossen. 36 bilder - und alles Volltreffer. Jede Aufnahme zeigt einen Leoparden, wie Marx schemenhaft im Licht seiner Dunkelkammer erkennt. Eigentlich unmöglich, denn normalerweise müssen Fotofallen mindesten einen Monat installiert sein, bevor ein Film voll ist - die Kamera löst automatisch aus, sobald sich ihr ein größeres Säugetier nähert. Und dem Biologen ist es noch nie im Leben passiert, dass auf einem Film nur eine einzige Tierart abgelichtet wurde. Hastig überschlägt Marx die Ergebnisse dieser Auswertung: Sollten die Aufnahmen verlässlich sein, würde das bedeuten, dass auf der indonesischen Insel Java 90 Prozent mehr Leoparden leben, als Forscher bisher glaubten...
Noch am gleichen Abend beginnt Marx mit der Analyse - er will die Raubkatzen anhand ihrer Fellmuster katalogisieren, um Doppelzählungen auszuschließen. "Kehlstrich, trangulares Stirnmuster, perforiertes Ohrrechts", murmelt er, während er die erst Aufnahme studiert - einen jungen Leoparden, der mit aufgerissenen Augen in die Linse schielt. Das zweite Foto, wenig später aufgenommen, zeigt wieder einen Leoparden: Er saust mit angelegten Ohren im Schweinsgalopp an der Kamera vorbei. 34 weitere Bilder folgen - doch sie werden immer merkwürdiger: Marx erkennt einen Leoparden, der vor der Kamera eine passable Vorwärtsrolle zum Besten gibt, wieder einen, der sich vor der Linse grinsend von einem Ast herunterbaumeln lässt, und zwei Bilder, auf deen ein Leopard offensichtlich sehr selbstzufrieden direkt in die Kamera faucht. Immer wieder betracht der Mann die Bilder - und dann sieht er es: das perforierte Ort. Der Kehlstreifen. Das unverwechselbare Stirnmuster. Auf jeder Aufnahme turnt derselbe Leopard vor der Kamera des Biologen herum...
"Diese Katze", sagt Marx, "ist jeden Tag zu der Fotofalle gewandert, hat sich einmal kurz vorgestellt, um zu prüfen, ob der Blitz noch aktiv ist - und dann eine neue Stunteinlage aufgeführt. Das ist völlig....absurd!" Absurd - und so interessant, dass mittlerweile Verhaltensforscher aus acht Ländern nach Java reisten, um den eitelsten Leoparden der Welt zu studieren. Und Dorian Gray, wie die Raubkatze inzwischen getauft wurde, inspiriert immer neue Theorien: Er sei aus einem Zirkus entlaufen, glaube einige, andere meinen, er sei der letzte Nachfahre jener zahmen Leoparden,die einst in den indischen Herrscherhäusern lebten. Wie auch immer es ist: Eines hat Dorian Grayin jedem Fall vollbracht - er lockte so viele Forscher an, die so viele Fotofallen aufstellten, dass die Wälder Javas für Raubkatzen seitdem so sicher sind wie Fort Knox. Seit Dorian Gray das erste Mal in eine Kamera schielte, gab es keinen einzigen Fall von Wilderei mehr.
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