Das Foto auf dieser Seite ist eine Sensation. Es ist die schärfste Nahaufnahme eines Pottwals, die je gemacht wurde – sie entstand aus nur vier Metern Entfernung vor der karibischen Insel Dominica, und in genau diesem Moment analysieren ein Dutzend der führenden Meeresbiologen jede Kerbe, jede Narbe, jeden Quadratzentimeter Walhaut, der hier sichtbar ist. Details, die Aberhundert Geschichten erzählen über ein Lebewesen, das als größtes Raubtier der Erde gilt; das ausgewachsen die Länge von zwei Reisebussen erreichen kann; dessen Gehirn mit 9,5 Kilo das größte und schwerste aller Zeiten ist; dessen Zähne so lang werden wie ein menschlicher Unterarm – und das all diesen Rekorden zum Trotz vor allem eines ist: das am wenigsten erforschte Geschöpf unseres Planeten.
„Fast all unser Wissen über Pottwale stimmt von toten oder gestrandeten Tieren“, erklärt der Meeresbiologe James Fuller. Und selbst dieses Wissen ist mager: Die Bestandsschätzungen schwanken zwischen 10.000 und einer Million Pottwale weltweit. Wie die Giganten sich paaren, ihre Jungen gebären oder fressen, wurde noch nie beobachtet – selbst über ihr Jagdverhalten existieren nur bloße Vermutungen. Die eine Forscher-Fraktion glaub: Da Pottwale Zähne haben, setzen sie diese beim Beutefang auch an. Wieder andere Experten verweisen auf wohlgenährte Fundwale mit deformierten Kiefern, die unmöglich bei der Jagd einsetzbar waren. „Pottwale kommen in allen Meeren vor“, so Fuller. „In den Tropen, in Polarregionen – einer wurde sogar in der Ostsee gesichtet. Zwar erreichen sie Tauchtiefen bis zu 3000 Metern, aber meist halten sie sich in einer Tiefe von 350 Metern auf. Sie sind eigentlich nicht zu übersehen – mit all unseren elektronischen Geräten müssten wir viel mehr über sie wissen. Trotzdem gelingt es ihnen bis heute, sich unseren Blicken zu entziehen.“ Was bleibt – das sind Legenden. Legenden über Pottwale, die ihre Köpfe wie Rammböcke gegen Walfangschiffe einsetzen, um ihre Herden zu schützen; sie sich aus dem Wasser katapultieren und Wellen erzeugen, die ganze Mannschaften über Bord gehen lassen. Fünf Walfänger wurden bis heute von Pottwalen versenkt – darunter die 28 Meter lange „Essex“, deren Schicksal die Vorlage für den Roman „Moby Dick“ von Herman Melville lieferte.
„Manchmal, wenn ich vor meinen Auswertungen sitze und feststelle, dass alle Forschungen immer nur weitere Fragezeichen erbringen, denke ich, diese Wesen wollen uns etwas mitteilen“, sagt Fuller. „Sie wollen nicht erforscht werden, sondern einfach nur ihre Ruhe haben. Und so lange wir diese Erde friedlich mit ihnen teilen, werden sie auch uns in Ruhe lassen. Vielleicht sollten wir ihnen ihr Mysterium lassen und erkennen, dass der Mensch nicht alles beherrschen kann.“